5. April 2022

Interview mit Dr. Dieter Praas | Leiter QuellPunkt | Bistum Aachen über die Berührungspunkte von Religion und Wissenschaft und deren Potenziale

Autorinnen: Bärbel Keysselitz und Julia Moritz | WBA Aachener Werkzeugbau Akademie GmbH
Dr. Dieter Praas ist studierter Theologe und Pastoralreferent im Bistum Aachen. Nachdem er 2018 erfolgreich seine Promotion im Bereich der Pastoraltheologie abschloss, zog er im Auftrag des Bistums beruflich auf den RWTH Aachen Campus. Genauer gesagt: in das Cluster Produktionstechnik, in dem er heute den QuellPunkt leitet.
Hier begegnen sich Wissenschaft und Religion. Wie gelingt der wechselseitige Austausch?
Zugegeben – dass der QuellPunkt, katholisches Hochschulzentrum auf dem Campus Melaten, seine Heimat 2018 im Cluster Produktionstechnik fand, hatte primär infrastrukturelle Gründe. Dennoch: Das Cluster Produktionstechnik stand damals – wie heute – exemplarisch für die Vision des RWTH Aachen Campus: Spitzenforschung, bei der die Center und ihre Akteure mit Unternehmen daran arbeiten, Antworten auf die relevanten Zukunftsfragen zu finden. „Damals wurde deutlich, welche Dimensionen der gesamte Campus annehmen würde. Da kam sowohl von kirchlichen Akteuren als auch von einigen Professorinnen und Professoren der Input, dass ‚Kirche‘ perspektivisch auch an einem so wichtigen Ort der Wissenschaft präsent sein müsse, wenn man sich nicht völlig aus der Gesellschaft und aus dem gesellschaftlich wissenschaftlichen Diskurs zurückziehen wolle“, erinnert sich Praas. So entstand im Cluster Produktionstechnik ein Anlaufpunkt für Themen wie Unterbrechung, Hinterfragung, Spiritualität und Transzendenz: der QuellPunkt.

Campus GmbH/Moll

Das Cluster Produktionstechnik ist eines der größten Forschungslabore für Produktionstechnik und Industrie 4.0 in Europa
„Hier bilden wir die Schnittstelle zwischen Theologie, Naturwissenschaft, Ethik und Technik.“
Das Cluster Produktionstechnik und der QuellPunkt zeigen, wie Wissenschaft und Religion zusammenkommen können. „Mit dem Cluster Produktionstechnik verbinden uns thematische Gemeinsamkeiten, wie zum Beispiel das Internet of Production und Industrie 4.0. Hinsichtlich dieser Themen interessieren wir uns dann für die ethischen Fragestellungen; unter anderem auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Ich bekomme mit, dass sowohl Studierende als auch wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen, dass ethische Fragestellungen im Studium und der täglichen Arbeit oft kaum eine Rolle spielen. Hier im QuellPunkt kann man sich dann einmal ganz bewusst damit beschäftigen.“ In Workshops und persönlichen Gesprächen fragen sich Besucherinnen und Besucher dann zum Beispiel, was eigentlich die von der EU definierte ,vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz‘ und ‚Verantwortungsübernahme‘ genau bedeuten. „Solche Diskurse finde ich einfach spannend. Wir machen mit dem QuellPunkt das Angebot, Ideen und Know-how, Netzwerk und Perspektiven mit in das Cluster Produktionstechnik einzubringen,“ freut sich Praas.
„Man muss nicht versuchen, eine Perspektive auszulöschen, sondern die Spannung zwischen beiden aufrecht zu erhalten.“
Wichtig dabei ist ihm, dass der Dialog zwischen Wissenschaft und Religion nicht als Einbahnstraße verstanden wird: „Im optimalen Fall entsteht eine wechselseitige Inspiration, die durchaus auch mal von Irritationen geprägt sein kann – also, dass bestimmte Grundannahmen über scheinbare Selbstverständlichkeiten dann auch immer wieder neu hinterfragt werden.“ Einen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion sieht Praas daher nicht. „Es sei denn, man vertritt auf beiden Seiten sehr extreme Positionen. Sprich: Sie haben auf der einen Seite einen religiösen Fundamentalismus, der etwa die Schöpfungserzählung mit einer naturwissenschaftlichen Aussage verwechselt. Und auf der anderen Seite haben Sie einen wissenschaftlichen Reduktionismus, der davon ausgeht, dass es keine Wirklichkeit außerhalb des naturwissenschaftlich Beweisbaren gibt. Religiösen Fundamentalismus mit einem wissenschaftlichen Reduktionismus zu vereinen, das ist wahrscheinlich nicht möglich.“ Seine Überzeugung ist, dass sich Glaube weniger auf das Wahrhalten von bestimmten Glaubenssätzen bezieht, sondern vielmehr auf ein Sich-öffnen zur Transzendenz – der Überzeugung, dass es mehr als das sinnlich Wahrnehmbare und empirisch Feststellbare gibt. „Und genau hier entsteht dann ganz viel Platz dafür, dass sich Religion, Wissenschaft und Naturwissenschaft begegnen können“, erklärt er. Eine notwendige Einstellung dafür sieht er in der Ambiguitätstoleranz, die anerkennt, dass die Welt mehrdeutig ist. „Man muss nicht versuchen, eine Perspektive auszulöschen, sondern die Spannung zwischen beiden aufrecht zu erhalten. Das erfahre ich persönlich als sehr bereichernd und ich denke, dann kommen Glauben und Wissenschaft in einem guten Sinne zusammen.“

Thomas Langens

Hannah Döhmen

L. Schmied

Nachhaltige Produktion – „Gerade hier kann Religion der Wissenschaft einen kritischen Impuls geben.“
Für Praas ergibt sich insbesondere beim Thema nachhaltige Produktion, das auch im Cluster Produktionstechnik eine wichtige Rolle spielt, ein spannendes Diskussionsfeld. „Ich finde es extrem wichtig, dass wir hier im Cluster und auf dem gesamten RWTH Aachen Campus erstmal den Begriff der Nachhaltigkeit ganz genau definieren. Bisher wird das Thema ja noch sehr unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet.“ Was er sich wünscht? Eine kritische Reflexion dieser Sichtweise und die Beantwortung der Frage, was denn wirklich das Ziel sein soll. Gerade hier glaubt er, dass Religion der Wissenschaft einen kritischen Impuls geben kann. Denn Religion versteht Natur nicht als Objekt und den Menschen als Subjekt, das der Natur gegenübersteht. Die Religion sieht den Menschen als integralen Bestandteil von Natur. „Das ist, glaube ich, noch einmal ein Impuls, von dem ich sagen würde, den sehe ich persönlich noch nicht so stark in den Diskussionen hier im Cluster Produktionstechnik. Ich bin der Meinung, dass man am Ende eine ganzheitliche Antwort auf das Thema Nachhaltigkeit geben muss. Sonst kommen wir an den Punkt, dass gesagt wird: Das ist ja alles nur Marketing, ist Greenwashing – keine innere Überzeugung“, gibt Praas zu bedenken.
Das Cluster Produktionstechnik von (über)morgen
Diesen Blick in die Zukunft möchte Praas nicht wagen. „Ich glaube, dass so ziemlich alle, die in den 90er Jahren gebeten wurden, 30 Jahre in die Zukunft zu sehen, nicht ahnen konnten, welche disruptiven Innovationen zu solch einer gesellschaftlichen und technologischen Veränderung führen würden. Das zeigt mir, dass man mit dem Blick in die Zukunft sehr sparsam umgehen sollte.“ Dennoch hat er einen Wunsch: „Dass man 2050 das Fazit ziehen kann, dass wir uns auf die Bedürfnisse der Menschen einstellen und die Entwicklungen kreativ und kooperativ mitgestalten konnten – weil wir uns unserer sozialen und ökologischen Verantwortung bewusst waren. Ich glaube, dass sich die Bedürfnisse der Menschen wirklich ändern werden. Dass andere Werte, Sinnerfüllung und New Work, eine viel größere Rolle spielen werden. Das wird reichen von Produkten, die wir bereit sind, zu konsumieren, über Unternehmen, für die wir bereit sind, zu arbeiten, bis hin zu Dingen, für die wir bereit sind, uns zu engagieren.“ Er hofft, dass sich auch das Cluster Produktionstechnik darauf einstellen wird.

Dieter Praas

Der QuellPunkt

Ein Ort der Ruhe, Diskussion, Spiritualität und Reflexion – so steht Studierenden beispielsweise ein Raum zum Lernen oder Kunstschaffenden zur Ausstellung ihrer Werke bereit. Hier finden auch Lesungen, Podiumsdiskussionen und andere Workshops statt. Ein wichtiges Thema im QuellPunkt: die seelische und körperliche Gesundheit. „Dazu gibt es hier bei uns zahlreiche Veranstaltungen. Die stehen dann auch schon einmal unter dem Motto ‚Führungsethik‘ oder ‚Führung und Spiritualität‘. Da waren dann schon Professorinnen und Professoren und Institutsleiterinnen und -leiter dabei, die nach Lösungen gesucht haben, um ihren Teil zu seelisch und körperlich gesunden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu leisten. Hier kann der QuellPunkt das Forum sein, solche Anforderungen im Cluster Produktionstechnik zu formulieren und zu diskutieren. Das finde ich großartig“, sagt Praas.

Veranstaltungen im QuellPunkt

Peter Winandy

Der Raum der Stille

„Das Cluster Produktionstechnik versteht sich auch in der Selbstbeschreibung als sehr dynamisch und agil. Es gibt eine hohe Leistungsbereitschaft und Leistungsanforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn gesellschaftlich dann gleichzeitig so viel von Work-Life-Balance die Rede ist, können wir mit dem QuellPunkt vielleicht einen kleinen Beitrag zu dieser Work-Life-Balance leisten – beispielsweise mit dem Raum der Stille.“ Praas meint hiermit einen Raum, in dem sich Personen aller Glaubensrichtungen zum Gebet, aber auch zur Meditation oder einem Moment der Ruhe zurückziehen können – ganz ohne Voranmeldung. Der Raum der Stille ist ein Anders-Ort auf dem Campus Melaten. Er steht allen Menschen offen, unabhängig von ihrer Religion, ihrem Glauben oder Nicht-Glauben, zum Nachdenken, Gar-nicht-denken, Kopf-frei-bekommen und Inspiriert-werden. „Die kürzeste Definition von Religion ist ‚Unterbrechung‘. Von Routinen, Denkgewohnheiten, vermeintlich nicht hinterfragbaren Logiken. Um diese auch einmal kritisch zu hinterfragen, braucht es einen geeigneten Raum. Viele Besucherinnen und Besucher melden mir zurück, dass es ihnen sehr gut tut, dass es diesen Raum hier gibt“, berichtet Praas. „Ich spreche also eine herzliche Einladung an alle Akteure auf dem RWTH Aachen Campus aus, einfach mal im QuellPunkt vorbeizukommen.“