18. September 2018
Dr. Violett Zeller ist als geschäftsführende Partnerin für die strategische Ausrichtung und Weiterentwicklung des Industrie 4.0 Maturity Centers im Cluster Smart Logistik zuständig. Neben dieser Tätigkeit ist sie seit 2015 Leiterin des Bereichs Informationsmanagement am FIR an der RWTH Aachen und unter anderem für die strategische Entwicklung des acatech Industrie 4.0 Maturity Index verantwortlich.

Sie haben kürzlich erfolgreich promoviert. Mit welchem Thema haben Sie sich in Ihrer Dissertation befasst?

Ich habe mich in meiner Dissertation damit befasst, ein Verfahren zur Verbesserung von Prozessen zur IT-Service-Erbringung zu entwickeln. Im Zeitalter der vernetzten Digitalisierung nutzen noch viele interne IT-Organisationen in der produzierenden Industrie ihre Ressourcen dafür, stabile IT-Services durch einen stabilen IT-Betrieb zu realisieren. So bleibt wenig Zeit und Budget, um sich strategischen Themenstellungen zu widmen oder eine aktive Rolle bei der Realisierung einer Digitalisierungsstrategie einzunehmen. Ich bin der Meinung, dass interne IT-Organisation ein essentieller Player bei der Realisierung der digitalen Transformation in Unternehmen ist. Dafür muss eine IT-Organisation neue Aufgaben annehmen und bestimmte Fähigkeiten aufbauen, wie z.B. die Fähigkeit der Ambidextrie. Als IT-Organisation in der Lage zu sein, beidhändig neue strategische Themen schnell angehen zu können und gleichzeitig das Bestehende im Augen zu behalten, ist für mich die zusätzliche Kernkompetenz, die nicht nur IT-Organisationen, sondern Unternehmen generell erwerben müssen.

Im Frühjahr 2017 gründeten Sie das Industrie 4.0 Maturity Center mit. Aus welcher Idee heraus ist Ihr Center entstanden?

2015 wurde auf der Hannover Messe mit mehreren Partnern die Idee geboren, durch die Entwicklung eines Reifegradmodells produzierenden Unternehmen eine valide Beurteilungsmethodik bereit zu stellen, die ihnen ermöglicht, den Industrie 4.0-Status in ihren Betrieben zu erfassen. Darauf aufbauend sind Unternehmen in der Lage, individuelle Handlungsempfehlungen für die erfolgreiche Einführung von Industrie 4.0-Lösungen zu entwickeln. Unter der Schirmherrschaft der acatech war es uns möglich, mit renommierten Forschungs- und Industriepartnern den „acatech Industrie 4.0 Maturity Index“ zu entwickeln, welcher dann 2017 auf der Hannover Messe vorgestellt wurde – da schloss sich dann der Kreis. Mehrere Stimmen aus dem Projektkonsortium sowie das acatech-Präsidium waren der Meinung, dass die Verstetigung der Anwendung und die Bündelung der Folgeaktivitäten des Maturity Index durch eine unabhängige Entität vorangetrieben werden müssen, damit der Index den Status eines internationalen de-facto-Standards erreicht. So ist die Idee des Industrie 4.0 Maturity Centers entstanden.

Was versteht man unter einem Industrie 4.0 Maturity Index? Warum ist es für Unternehmen so wichtig, so einen Index haben?

Der Industrie 4.0 Maturity Index ist ein wichtiges Werkzeug, um die Transformation in Richtung Industrie 4.0 systematisch zu gestalten. Die systematische Vorgehensweise ist wichtig, damit jede einzelne Maßnahme schon Wirkung erzielt und man die Projekte in sinnvoller Reihenfolge plant – so bleibt der Aufwand kalkulierbar und die Unternehmen bestimmen selbst das Tempo. Unser Index zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass alle Wertschöpfungsprozesse eines Unternehmens analysiert werden (Produktion, Logistik, Verkauf und Marketing sowie Forschung und Entwicklung), was die ganzheitliche Beurteilung des Industrie-4.0-Reifegrades unternehmensindividuell ermöglicht. Nur so können bedarfsgerechte Lösungen entwickelt und implementiert werden. Die Reifegrad-Skalierung ist durch sechs nutzenorientierte Entwicklungsstufen definiert, d.h. nicht der Grad der technologischen Entwicklung ist allein entscheidend. Vielmehr geht es um die digitalen Fähigkeiten, die dazu notwendig sind, um einen gewissen Geschäftszweck (Gewinn, Kostenreduktion, Flexibilität) zu erreichen. Die Ausprägung der jeweiligen Industrie-4.0-Fähigkeiten bildet die Grundlage zur Ableitung individueller Maßnahmen. Eine weitere Besonderheit: Unser Modell bildet die Mehrdimensionalität von Industrie 4.0 im Zusammenspiel von Informationssystemen, Ressourcen, Unternehmensorganisation und Unternehmenskultur ab. Wir betrachten Industrie 4.0 also „nur“ als Mittel zum Zweck, um das Unternehmen zu befähigen, sich in all seinen Unternehmensdimensionen zu einer digitalen, agilen und lernfähigen Organisation zu entwickeln. Eine Voraussetzung für Unternehmen, die auch zukünftig erfolgreich am Markt bestehen wollen.

Wie war es für Sie, ein Center von Beginn an strategisch mit zu entwickeln? Und wie sind Sie mit der Doppelbelastung während Ihrer Promotionszeit umgegangen?

Nun, es war eine spannende Erfahrung aus den Ergebnissen eines Forschungsvorhabens ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Ich finde, das passiert in Deutschland viel zu selten. Und wo in Deutschland könnte man so eine Idee besser verwirklichen als auf dem RWTH Aachen Campus? Für uns passten die Rahmenbedingungen des Campus optimal, um ein Business zu entwickeln. Hier trafen wir auf ein stabiles Fundament aus Instituten und Industrieunternehmen, welche die notwendigen Ressourcen und den Austausch direkt vor Ort bieten. Hier verfügen wir über die notwendige Ausstattung und die erforderlichen Werkzeuge, um schnell und inkrementell ein Center zu entwickeln. Mir persönlich hat es sehr viel Spaß gemacht, mit dem Projektkernteam aus der acatech-Studie das Center zu gründen. Daher hat mir die Doppellast in der Gründungszeit wenig ausgemacht und ich hatte die Möglichkeit, meine eigene Ambidextrie unter Beweis zu stellen. Dabei spielte es auch eine große Rolle, dass das von mir anvisierte Wunschteam und die Partner aus der Forschung und Industrie mit an Bord waren. Das hat mich ganz besonders motiviert, die Ausgründung voranzutreiben.

Was erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihren Mitgliedern im Industrie 4.0 Maturity Center? Und wie nutzen Ihre Mitglieder das Ökosystem RWTH Aachen Campus?

Wir als Industrie 4.0 Maturity Center agieren als neutrale Plattform, um mit und für produzierende Unternehmen, industrielle Dienstleister, aber auch Technologieanbieter und Beratungsunternehmen Wege zur Gestaltung der digitalen Transformation zu definieren. Dabei befähigen wir nicht nur diese, den Maturity Index anzuwenden. Unsere Mitglieder und Kunden schätzen darüber hinaus sehr, dass wir sie auf dem Weg von der Industrie-4.0-Strategieentwicklung über die Roadmap-Entwicklung bis hin zur operativen Realisierung der Industrie-4.0.Lösungen unterstützen und mit ihnen gemeinsam den Weg der digitalen Transformation beschreiten. Seit der Gründung im April 2017 konnten wir in mehr als 30 Betrieben den Index anwenden und daraus stetig neue Erkenntnisse gewinnen. Es schärft sich ein Bild, wie der Status quo in produzierenden Unternehmen im Mittel wirklich ist und welche Herausforderungen für die Unternehmen die schwierigsten sind. Das Ökosystem des RWTH Aachen Campus nutzen wir und unsere Mitglieder zum Austausch mit Experten und in der Zusammenarbeit an Schnittstellen angrenzender Themenbereiche. Beispielsweise werden wir gemeinsam mit dem Center Smart Services, ebenfalls ein Center im Cluster Smart Logistik, den Maturity Index weiterentwickeln. Ziel dieses Projekts ist es, ein produzierendes Unternehmen zu befähigen, seine digitalen Fähigkeiten zu bewerten, die notwendig sind, um das anvisierte digitale Geschäftsmodel zu realisieren. Mit unserem Center und unseren Zielen befinden wir uns also auf dem RWTH Aachen Campus in bester Gesellschaft.